Integrale Architektur – was ist das?
VON STEFAN KESSLER
Wenn man von «integraler Architektur» spricht, meinen viele, es handle sich um «integrale Planung». Es herrscht die Meinung, dass man unter integraler Planung eine Gruppe von Experten unterschiedlicher Fachdisziplinen versteht, die in einem Kreativprozess eine komplexe technische Bauaufgabe gemeinsam lösen. Bei der Planung wird der Rahmen etwas weiter gefasst: In diesem interdisziplinären Verbund sind neben Verkehrs- und Stadtplaner noch Geographen, Ökologen, Sozialwissenschaftler und Ökonomen beteiligt.
«Integrale Architektur» fasst den Ausdruck jedoch etwas weiter, wie wir sehen werden.
Gemäss Duden bedeutet integral «zu einem Ganzen dazugehörend und es erst zu dem machend, was es ist» (lat. integrare = wiederherstellen, ergänzen). Hinter der «integralen Theorie», auch «integrales Denken» oder «integrale Weltsicht» genannt, steht eine Weltanschauung, die sich um eine umfassend ganzheitliche Sicht des Menschen, seiner Umwelt und der Welt allgemein bis hin zum Geistigen bemüht. Es ist keine einheitliche oder präzise Theorie im engeren Sinne, sondern der nicht ganz einfache Versuch, im Rahmen eines weltweit wachsenden offenen Diskurses verschiedener natur-, human- und geisteswissenschaftliche Denkansätze miteinander zu vereinen. Dazu gehören auch mentale Grundhaltungen – prämoderne, moderne, postmoderne sowie östliche und westliche Weltsichten – bis hin zum Spirituellen. Die Ursprünge der integralen Philosophie gehen bis auf den deutschen Philosophen Georg Friedrich Hegel (1770 – † 1831) zurück. Zentrale Basis bilden jedoch Jean Gebser (1905 – † 1973) und Ken Wilber (*1949).
Integrale Anwendungen in ihrer Vielfalt!
In den letzten 20 Jahren entwickelten sich sehr viele Anwendungsbereiche der «integralen Theorie». Zum Beispiel im Management, in Pädagogik, Medizin, Psychologie, Psychotherapie, Politik u.v.m. Was die Architektur betrifft, befasste sich lange Zeit niemand damit, obwohl die Architektur uns alle beeinflusst. Wir sind von Architektur umgeben. Sie wirkt auf uns in unserem Umfeld, in der Wohnung, am Arbeitsplatz, im Restaurant, in Schulräumen und in Konzertsälen – sogar in Städten und Dörfern. Kurz gesagt: Architektur, die uns tagtäglich umgibt, bestimmt unser Leben in alltagspraktischen Belangen. Sie beeinflusst unser Fühlen, Denken und Handeln – nicht zuletzt hat sie Einfluss auf die Entwicklungstendenzen unseres gesellschaftlichen Verhaltens.
Eine integrale Humanisierung der Architektur ist dringend notwendig – eine Architektur also, bei der möglichst viele verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Und die Endnutzer wollen – neben den untenstehenden Themen – in Entwicklungsprozesse miteinbezogen werden (Lead User Methode), wie es zum Teil Wohnbaugenossenschaften heute schon praktizieren. Ende 2014 wurde in der Schweiz der VIAL «Verein Integrale Architektur und Lebensraumentwicklung» gegründet. Das Kernanliegen des Vereins besteht in erster Linie darin, in diesen Disziplinen für eine mehrperspektivische Betrachtungsweise bei Planungs- und Bauvorhaben zu sensibilisieren und eine Basis für die Etablierung des integralen Ansatzes zu schaffen.
Um was geht es konkret?
Es beinhaltet unter anderem die Erweiterung der Perspektiven:
Grafik: Feld des gesamten Wissens. Erweiterung der Perspektiven
Da die Welt nicht bloss aus der physisch-materiellen Ebene besteht (vgl. Physiker Burkhard Heim), ist die Idee, auch die unsichtbaren, respektive die feinstofflichen Ebenen in die Bauplanung zu integrieren. So haben u.a. auch Disziplinen wie Feng-Shui, Vastu, Geomantie* und Radiästhesie* Platz in der integralen Architektur. Heutzutage wird mehr gefordert. Es soll nicht nur die Sichtweise des Architekten miteinbezogen werden, sondern Bauherrschaft, Endnutzer mit allen Bedürfnissen wollen mitreden. Und mehr denn je wünschen diese, dass Wahrnehmung, Intuition und Emotionalität – ergänzend zur rationalen Planung – berücksichtigt wird. Dies bedarf einer grösseren Achtsamkeit im Umgang mit dem zu gestaltenden Lebensraum.
Und was ist jetzt der Zusatznutzen der «integralen Architektur»?
Ist sie bloss eine schöngeistige Theorie, eine intellektuelle Spielerei? Warum sollten sich Immobilienbesitzer, Baufachleute und letztlich die Endnutzer (die im Gebäude Wohnenden und Arbeitenden) mit derartigen Denkansätzen auseinandersetzen?
Da gibt es viele Gründe!
Ein Gebäude, das mit obigen Kriterien und dazu noch bedürfnisgerecht gebaut ist, lässt sich besser im Verkauf und in der Vermietung vermarkten – und es erhöht sich auch die Marketingrendite. Zudem wirken sich solche Bauten auf die Kundenbindung aus, d.h. es gibt weniger Mieterwechsel.
Unter diesen Gesichtspunkten gebaute Schulhäuser fördern das Lernklima. Integral gebaute Spitäler fördern den Genesungsprozess. Integrale Bürobauten unterstützen die Kommunikation und die Motivation. Die Konzentration wird verbessert, die Fluktuation und die Absenzen werden gesenkt – und die Kreativität sowie die Innovation lassen sich steigern. Und nicht zuletzt fördert es die Gesundheit und reguliert Stress. Integral gebaute Wohnungen berücksichtigen die fundamentalen Wohnbedürfnisse, die wir aus der Architektur- und Wohnpsychologie kennen wie z.B. Geborgenheit, Schutz, Sicherheit, Erholung und Regeneration, Rückzugsmöglichkeiten, Privatsphäre sowie sozialen Austausch. Die Bewohnenden fühlen sich einfach wohler und «zu Hause».
Der Verein VIAL sucht nicht nur den interdisziplinären Austausch, sondern auch den transdisziplinären. Dies bedeutet konkret, dass der Austausch sowohl mit Experten als auch mit interessierten Laien (den Nutzern) gesucht wird – denn Architektur betrifft jeden! Leider sind wir uns dessen zu wenig bewusst. Die integrale Architektur setzt sich mit dem ganzen Lebenszyklus eines Baus auseinander – mit der Planung/Entwicklung, der Realisierung, der Bewirtschaftung, dem Umbau bis hin zum Rückbau. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die kanadische Städteplanerin Marilyn Hamilton (*1947). Sie vertritt den integralen Ansatz und hat darüber auch mehrere Bücher veröffentlicht z.B. „Integral City: Evolutionary Intelligences for the Human Hive (1-3)“
Viele sind der Ansicht, dass die Architektur-Ikone «Chapelle Notre Dame du Ronchamp» von Le Corbusier der integrale Bau par excellence sei.
«Chapelle Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp», Foto Stefan Kessler
Als integrale Architekten könnte man André M. Studer (1926 – 2007) und Otto Schärli (1930 – 2005) bezeichnen. Wir sind gespannt, wie sehr «Integrale Architektur» in Zukunft Allgemeingut wird!